Le Géant de Provence – Gigant der Provence

Einmal den Mont Ventoux mit dem Fahrrad erklimmen, wie es Jens Voigt, Jan Ullrich und Co. bei der Tour de France taten – das war mein Kindheitstraum. Seit meinem 16. Lebensjahr habe ich Typ-1-Diabetes, hatte mit diesem Traum aber trotzdem nie abgeschlossen. Mit 25 habe ich ihn nun verwirklicht. Hier ist mein Erlebnisbericht.
Nur das Ankommen zählt und wir bleiben bei unserem Tempo, um unsere Kräfte nicht zu verheizen.
Gemeinsamer Traum von Vater und Sohn
Morgens wache ich in einem kleinen Dorf am Fuße des Ventoux auf. Heute ist der Tag an dem ich mich dem Traum und der Herausforderungen stelle, einen der vier Berge der Ehrenkategorie zu erklimmen. Trotz ein wenig Nervosität habe ich gut geschlafen und fühle mich fit! Ich bin sehr euphorisch und will am liebsten direkt starten. Aber erst einmal gut frühstücken. Es gibt Nussmüsli mit Quark, Apfel und Banane. Ich reduziere meinen BE-Faktor um die Hälfte. Dass das gut funktioniert, habe ich vorher im Training getestet – jedoch nicht unter solchen extremen Bedingungen.
Anschließend ziehe ich meine Radsachen an und mache zusammen mit meinem Vater die Räder fertig. Er wird mich auf den Ventoux begleiten. Ein gemeinsamer Traum von Vater und Sohn soll erfüllt werden. Außerdem werden wir mit dem Auto von meiner Schwester unterstützt. Sie hat genügend Verpflegung, warme Klamotten (oben auf dem Gipfel sind nur 7 °C gemeldet) und für den Notfall einen Satz Ersatzlaufräder dabei. Der Plan sieht vor, dass sie alle 3 km auf uns wartet. Wie sich später bei der Auffahrt herausstellt, ist das auch bitter nötig.




Blutzucker bei knapp über 200 mg/dl, Basalrate auf 30 Prozent ... auf geht’s!
Die ersten Überholer wieder eingefangen
Wir starten. Mein Zucker steht bei knapp über 200 mg/dl (11,1 mmol/l). Das ist nicht ganz optimal, aufgrund der anstehenden Anstrengung und meiner Erfahrung aus den Trainingseinheiten aber noch im Toleranzbereich. Meine Basalrate reduziere ich auf 30 Prozent – auch das habe ich natürlich vorher getestet. Nach ca. 10 km Fahrt befinden wir uns am Ventoux. Mein Mein Blutzucker pendelt sich knapp unter 200 mg/dl ein. Die ersten paar Kilometer ist der Anstieg relativ flach; so um die 6 Prozent. Wir werden von vielen überholt. Für uns zählt allerdings nur das Ankommen und wir bleiben bei unserem Tempo, um unsere Kräfte nicht schon frühzeitig zu verheizen. Trotzdem merke ich nach ein paar Kilometern bereits, dass mein Blutzuckerspiegel sinkt. Mein Messgerät bestätigt dies und prognostiziert, dass der Wert weiter fallen wird. Wohlwissend, dass es nicht mehr einfacher wird, nehme ich ein paar Schlucke Cola zu mir und esse einen Müsliriegel. Am Auto lasse ich mir direkt die Flasche wieder auffüllen.
Mein Vater gibt das Tempo vor und so fahren wir mit einem guten Schnitt die nächsten Kilometer, ohne zu überdrehen. Die Versorgung aus dem Auto funktioniert dabei perfekt. Langsam aber sicher fahren wir auch zu einigen wieder auf, die wir am Anfang haben ziehen lassen, was uns ein wenig beflügelt. Es wird steiler. Muss es ja, denn der Berg weißt über 21,5 km eine Durchschnittssteigung von 8,8 Prozent auf. Der Puls steigt ein wenig, die Beine schmerzen mehr und mehr, aber wir bleiben zuversichtlich, den Berg bezwingen zu können. Ab und an nippe ich an der Cola, um meinen Blutzuckerspiegel auf einem guten Wert zu halten. Das gelingt auch gut - die Kurve bleibt konstant zwischen 130 und 140.
Harte Steigung, es wird immer kälter und der Wind bläst mit 50 km/h
Die Frage: Warum tue ich mir das eigentlich an?
Langsam geht es aus dem Wald raus. Jetzt ist nicht nur die Steigung im Weg, es wird auch immer kälter und der Wind pfeift uns mit ca. 50 km/h um die Ohren. Langsam fahre ich einen „Tunnel “(d.h.ich fahre nur noch, ohne darüber nachzudenken und finde meinen eigenen Rhythmus). Immer wieder checke ich meinen Blutzucker, nehme nochmal einen Müsliriegel zu mir und lasse die Getränke auffüllen. Es ist kalt, aber ich möchte nicht stehen bleiben, um eine Jacke anzuziehen – bloß nicht aus dem Rhythmus bringen lassen! Ich passiere das Chalet Reynard. Ab dort sind es nur noch 6 km. Allerdings wartet noch das steilste Stück auf mich. Aber ich fühle mich den Umständen entsprechend gut und realisiere, dass ich es wirklich schaffen kann. Man könnte sagen, ich erlebe einen zweiten Frühling und so erhöhe ich das Tempo. Allerdings merke ich schnell, dass mein Blutzuckerspiegel etwas abfällt. Auch die Tendenz zeigt nach unten. Ich nehme rechtzeitig nochmal etwas Cola zu mir und fange so die Kurve wieder auf. Die letzten 2 km sind dann eigentlich nur noch Durchbeißen, ganz nach dem Motto meines Idols Jens Voigt: „Shut up Legs“. Es ist nochmal sehr steil und der Wind wird immer stärker. Noch eine Kurve – jetzt ist es geschafft! Erleichterung und Stolz überkommen mich.
Meinen Blutzuckeruckerwert messe ich schnell nochmal, der passt, und dann fahre ich ein paar Meter den Berg runter, um mir bei meiner Schwester eine warme Jacke abzuholen. Der Traum ist erfüllt und dafür muss ich mich ganz besonders bei meinem Vater und meiner Schwester für die Begleitung bedanken. Außerdem gilt mein Dank auch meiner Diabetesberatung. Ausgestattet mit einem FGM-Sytem (Flash Glucose Monitoring) und einer Insulinpumpe, konnte ich immer rechtzeitig auf den Verlauf meines Zuckerspiegels reagieren. Man sieht, dass auch solche Leistungen für Diabetiker nicht mehr unmöglich sind. Wichtig ist aber, sich nicht zu überschätzen und seinen Blutzucker immer im Blick zu haben. Auch ein wenig Erfahrung kann nicht schaden. Bereitet euch gut vor und messt im Training immer wieder euren Blutzucker, um den Verlauf besser einschätzen zu können und den Körper an solche Anstrengungen zu gewöhnen!
